Mama weg, Papa weg, alle weg




TRANSKRIPT
Lieber D.!   ¶   Wir haben von der Oma K. gehört, daß Du nicht oft an Mama u. Papa denkst. Was machst Du den ganzen Tag? Spielst mit der Claudia + dem Martin? Oder willst Du „Deine Ruhe“ haben? Sei weiterhin schön lieb zur Oma, und sie soll Dir von uns ein Küßchen geben oder auch zwei. Diese Karte ist für Dich u. Du darfst sie behalten. Auf Wiedersehen lieber D. auch an Oma viele Grüße. H.-R.+ M. Papa + Mama.





29.7.70   ¶   Lieber D.! Diese Karte ist für Dich und die Oma wird Dir dann vorlesen, was für Tiere das alles sind. Verschiedene haben wir auch schon hier gesehen. Wie geht es Dir? Mußt immer schön lieb sein und der Oma gehorchen. Das Wetter ist ja gut, da spiel mal mit der Claudia und dem Martin. Schöne Grüße von Papa und Mama und die Oma soll Dir ein liebes Küßchen von uns geben.



[ erlebt: 3-jährig / 1970 ]
[ Medium: Postkarte ] [ Archivierung: Wohnzimmer / Schrank / Plastiktüte ]

m41
Eines meiner frühsten Kindheitserlebnisse, an das ich mich erinnern kann, ist im Sommer 1970 passiert. Da war ich gerade drei Jahre alt. Meine Eltern waren auf eine Hochzeit nach Süddeutschland eingeladen. Ich erinnere mich, dass Papa, Mama, mein Bruder, meine Oma und ich morgens mit dem Auto zum Spielplatz gefahren sind, wo ich mich ausgie-big austobte. Ich bin immer die Rutsche rauf und runter und Oma hat mich beaufsichtigt. Plötzlich bemerkte ich, dass es leerer geworden war. Meine Eltern und mein Bruder waren verschwunden. Vor lauter Schreck soll ich mehrmals nacheinander: »Mama weg, Papa weg, alle weg« gerufen haben. Nur noch meine Oma war da, zu der ich hinlief. Sie nahm mich an die Hand und machte mit mir einen großen Spaziergang am Schlangenbach. Sie erklärte mir, dass ich zu jung sei, um die lange Fahrt zur Hochzeit mitzumachen.
      Unterwegs fanden wir eine originalverpackte Tafel Schokolade, die wohl jemand verloren hatte. Ich wollte sie probieren, aber Oma war dagegen. Sie meinte es gäbe Menschen, die Kinder und/oder Hunde hassen und deswegen vergiftete Süßigkeiten hinlegen. Ich machte die Schokolade auf, fand nichts Auffälliges, aber Oma verbot mir davon zu essen. Ich musste sie also wieder wegwerfen.
      Die beiden Karten schickte mir meine Mutter von unseren Verwandten aus, während ich vier Tage von meiner Oma, die im gleichen Haus wohnte wie wir, versorgt wurde. In den ersten Stunden soll ich ziemlich niedergeschlagen gewesen sein, doch danach habe ich meine Eltern nicht besonders vermisst. Schließlich hat sich Oma rund um die Uhr um mich gekümmert. Als ich etwas älter war erfuhr ich, dass sie mich nicht mitnahmen, weil die Platzverhältnisse unserer Verwandten sehr beengt waren. Meine Eltern mussten sich mit meinem Bruder schon ein Klappbett teilen. Meinen Bruder haben sie mitgenommen, da er Blumen streuen sollte.
       Heute kann ich verstehen, dass meine Eltern damals so gehandelt haben und mich kleinem Knirps vor vollendete Tatsachen gestellt haben. Hätten sie es mir vorher versucht zu erklären, hätte ich vielleicht die ganze Nacht lang geweint. Allerdings saß der Schock, dass auf einmal alle weg waren, sehr tief, so dass ich mich noch heute an Bruchstücke erinnern kann.


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