Heiligenhafen



TRANSKRIPT
Heiligenhafen, den 10.7.84   ¶   Liebe Oma!   ¶   Ich schreibe Dir deshalb einen Brief und keine Karte, weil ich nicht genug Platz auf der Karte habe. Der Inhalt dieses Briefes ist ausschließlich für Dich bestimmt!   ¶   Nun, ich habe mit dem Brief solange gewartet, weil an dem Tag, einem Donnerstag, an dem Dein erster Brief kam, die Stimmung hier schlecht war und ich lieber noch auf das seit langem vorrausgesagten, bessere Wetter warten wollte. So ungefähr hätte der Brief gelautet, wenn ich Dir sofort geantwortet hätte:   ¶   Die Wohnung hatten wir für einen so großen Bau recht schnell gefunden; und ebenso schnell kamen wir zu der Überzeugung, daß die Einrichtung nicht teuer gewesen sein kann; aber deshalb mußte noch nicht die Stimmung darunter leiden. Die Eltern scheinen diese erste Woche ja genossen zu haben. Sie waren andauernd unterwegs; und da sie, wie du weißt, uns früher zum Spazierengehen gezwungen haben, war meine Lust hier bei kalt-feuchtem Wetter am Strand rumzulatschen natürlich begrenzt, sehr begrenzt. Deswegen blieb ich bis auf das ansich für schlechtes Wetter schöne Wellenbad (immer) in der Wohnung. Der Fernseher war so ziemlich das einzige unterhalten­de Mittel hier, diese Woche zu ertragen. M. hatte dieses Problem auch. Er ging (mit seinen reichlichen vorher eingesteckten [120 um genau zu sein] „Mäusen“) unter die Leute, kam in oder gründete, oder was weiß ich, eine Truppe und ward fortan sehr selten gesehen, was er jetzt noch immer ist. So beklagen sich die Eltern, daß ich andauernd in und er andauernd außerhalb der Wohnung war.



Der schwarzeste Tag, hier, das wird man wohl jetzt schon sagen können, wird, so zufällig und belustigend zugleich das auch ist, dieser Donnerstag gewesen sein. Irgentetwas muß mich da vorher befallen haben; jedenfalls war es Freitag wieder weg. Es is kaum zu glauben, aber es war wohl so schlimm, daß ich nach M.s Aussagen nachts sogar was erzählt haben soll. Unglaublich, aber zum Glück war ich doch noch so gescheit, in Unverständlichstem zu sprechen. Ich wollte Dir an diesem Tag einen so gepfefferten Antwortbrief schreiben, der den Urlaub unsagbar schlecht gemacht hätte, daß es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn mit dem Zug zurückgefahren wäre, aber ich wollte das Wetter abwarten, denn bei schönem Wetter, dachte ich, würde sich einiges ändern.   ¶   Nun ist Dienstag und das Wetter ist seit zwei Tagen himmlisch. Aber auch nur das Wetter. M. geht jetzt mit seiner Klicke an den Strand und ich muß(-te) mit den Eltern mit. Ich hab es satt. Eben war ich etwas draußen, aber auch nur um mir einen schönen Platz für morgen auszusuchen, wohin ich dann allein gehen werde. Der Grund dafür war der heutige Tag. Ich habe mit denen schon wieder einmal über diese elende, verschwenderische Rumfotographiererei gestritten, aber wir kriegen uns wohl ein. Der andere Punkt des Streites, und das war das Ausschlaggebende, war eine Unverschämtheit Papas. Es ist immer dasselbe, ich dränge, irgentwohin schnell hinzukommen und wenn wir da sind, nach einiger Zeit schnell wieder abzufahren. Das ist eben so mit mir. Wieso weiß ich nicht. Nun waren wir ab 10.30 Uhr am Strand. Das Strandessen besteht nur aus einem Brötchen, und ich drängte um 18.00 Uhr, die Sachen zu



packen. Mama war kompromißbereit. Sie sagte: um 18.30 Uhr fahren wir. Wenn es dir nicht paßt dann geh gefälligst allein nach Hause (Eine bis dahin gespannte Atmosphäre). Ich glaubte ihr und schlug auch die, wie ich annahm, letzte halbe Stunde irgendwie tot. Kurz vor halb meldete Papa, daß es doch so schön sei und er noch bleibe. Das nennt man verarschen, jawohl! Aber solche kleinen Zwischenfälle passieren immer häufiger. Die Sache mit dem Fahrstuhl und den Essensmarken erzähle ich Dir später.   ¶   Wäre doch gelacht, wenn ich mir dieses dumme Gelaber den ganzen Tag anhören müßte. Es nicht schon, wenn ich es hier abkriege. Zuhause würde ich in mein Zimmer gehen oder nach/zu (ich weiß nicht genau ob zu oder nach, na ja egal) Minipreis verschwinden und aus, aber hier geht das schlecht, alleine.   ¶   Zuerst wollte ich auch schreiben, daß ich es bereue, nicht zu Hause geblieben zu sein, wegen des Wetters, aber nun wäre ich froh ich wäre es geblieben, denn sonnen kann man sich zu Hause auch und allein ist man sowieso; nur gehen mir hier ca 250DM durch die Lappen (Minipreis). Aber ich freue mich nach Hause zu kommen.   ¶   Ich hab den Entschluß gefaßt, mehr mein Geld zu genießen. Als erstes werde ich mir neue Anzieh­sachen kaufen. Der Fummel, in dem ich jetzt rumlaufe gefällt mir schon längst nicht mehr: eine geflickte Cord-Hose, eine beige-blasse Stoffjacke und ein 9.95DM Pullover. Liegt es daran, daß ich hier kein Kontakt finde? Ich weiß es nicht, aber ich stelle die These auf die Probe, indem ich mir viele neue modische Sachen kaufe. Nun genug von diesem Elend hier.



Es tat mir wirklich leid, als ich laß, was Du für Schwierigkeiten mit Flunkerchen hast. Aber zu Deiner Beruhigung: so gut kam ich mit ihr auch nicht zurecht. Ein Tip: Stelle doch den Käfig auf Deinen Eßtisch (im Wohnzimmer), laß sie sich etwas an den Platz da gewöhnen und laß sie dann raus. Und dann jage sie mit einem Zollstock oder so. Du glaubst nicht, wie zutraulich sie dann wird; und wenn das nicht klappt, laß ihr einfach freien Lauf. Irgentwann wird sie schon hungrig sein, daß sie von selbst auf und dann in den Käfig fliegt. Die Flurtür laß beruhigt offen. Sie würde mit 99% nicht aus dem Zimmer fliegen. Bei mir tat sie das jedenfalls nie..   ¶   Nun, heute ist der 10. also Halbzeit, daß heißt die Hälfte ist vorbei. Aber der Rest, hoffe ich, packe ich auch noch. Nun ist einiges vom Herzen geredet. Freilich nicht alle Feinheiten, aber der Brief ist eh schon zu lang. Ich werde schon das Beste daraus machen.   ¶   Dein D.



[ erlebt: 17-jährig / 1984 ]
[ Medium: Brief ] [ Archivierung: Elternhaus / Wohnzimmer / Kommode ]

m41
Der Brief war mir völlig entfallen, nur durch zufälliges Herumstöbern im Elternhaus habe ich ihn wieder entdeckt und meine Handschrift bezeugt, dass ich ihn geschrieben habe. 1984 war ich noch ein Jahr entfernt von der Volljährigkeit. Eine schlimme Zeit. Urlaub mit den Eltern, schon der Graus. Ich weiß noch, dass dies der langweiligste, blödeste Urlaub war, nicht so wie als Kind in den 70ern, als wir nach Cuxhaven oder Scheveningen gefahren sind. In Heiligenhafen wohnten wir in einer Bettenburg, ein Riesenbau mit 120 Appartements, das einzig Interessante war der Pool im Haus. Ansonsten uninteressante Leute, mieses Wetter, Unterhaltungsmöglichkeiten fast gleich Null. Ich war sauer und das staute sich auch noch an. Ich weiß aber nichts mehr vom Streit um den Fahrstuhl oder die Essensmarken.
       Damals habe ich für zwei Filialen eines Supermarktes gearbeitet und dort Waren ausgepackt. Diese drei Wochen konnte ich kein Geld verdienen, nur dumm rumsitzen. Ärgerlich, ätzend, öde. Das kommt im Brief sehr gut rüber. Es war auch lustig zu lesen, dass ich damals schon sehr ungeduldig war und es nie lange an einer Stelle ausgehalten habe. Das ist auch heute noch eine Eigenschaft von mir: Immer neugierig auf was Neues. Und die Kleidung war auch so eine Sache. Mein Bruder, der 15 Monate älter ist als ich, legte immer sehr viel Wert auf sein Äußeres und trug immer die neuesten Klamotten und Frisuren. Ich kümmerte mich hingegen nie so viel um mein Äußerliches und so fragte ich mich, ob ich mit einem modischeren Äußeren auch Leute kennen gelernt hätte. Jedenfalls kaufte ich mir nach diesem Urlaub zwei neue Teile.
       Der Urlaub ist zwar keine Sache, an die man sich gerne erinnert und ich hatte ihn auch längst nicht mehr so schlimm in Erinnerung, aber dennoch ist es interessant den Brief nach so langer Zeit wieder zu lesen. Statt den Ärger in mich reinzufressen machte ich mir Luft und schrieb an Oma, so wie andere in ihr Tagebuch schreiben.


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