Der letzte Gruß





TRANSKRIPT
Rissen, den 1.7.89   ¶   Hallo lieber M.!   ¶   Grüße aus Hamburg sendet dir M. Es ist jetzt vor acht Uhr. Frühstück gibt es gleich. So habe ich ein bischen Zeit. Die drei in G. werden jetzt auch auf den Beinen sein, denn heute ist ja der erste Samstag im Monat und A. will sich um 2 Fahrräder bemühen. Geld habe ich ihm gelassen. Er ist ja auch so klamm wie Du. Ob die auch am Mittwoch da sind? Montag ist der einzige Tag, an dem er sie auf geben kann. Gestern habe ich zu Hause angerufen. Aber 5 DM waren ruck-zuck dadurch. Bis nach B. wird es nicht mehr reichen. Die Scheine und Schmuck und Papiere habe ich an der Kasse hinterlegen müssen. Auch hier




wird furchtbar geklaut. So werde ich schreiben. Es geht nicht so schnell, außerdem ist meine Schrift furchtbar geworden. Vielleicht sind bei der Chemo doch Gehirnzellen mit abgestorben, obwohl das die einzigen sind, die nicht drauf gehen sollen. – Als ich Mitte Mai mit der Chemo aufhörte, glaubte ich, ab jetzt geht es aufwärts. Doch muß ich sagen, es wurde immer schlimmer. Die Leber war und ist dick und geschwollen. dazu kommt noch, daß mein Kreuz sich nicht mehr durchbiegen will und wenn ich mich etwas bewege, so ist das mit viel Schmerzen verbunden. Dr. G., der mir immer die Spritzen gibt, ist in Urlaub, so mußte ich jemanden finden, der für die Ferienzeit dieses weitermacht. Von Karin hört ich, Dr. W. sei ein guter Internist. Außerdem ist er ganz in der Nähe. Doch spritzen kann er nicht, jedes Mal hatte ich einen blauen Fleck und untersuchen kann er auch nicht.




Der hat auf meiner kranken Leber herumgedrückt, daß ich eine Woche im Bett liegen mußte. Hatte Schmerzen und Übelkeit, besonders beim luftholen. –   ¶   Zum Glück hatte ich schon Kontakt mit Hamburg. Koffer waren schon gepackt, nur ein Anruf, und wir sind gefahren. Es ist ein uralt Krankenhaus, aber die Abteilung des Dr. F. ist genau das Richtige für mich. Das Gebäude ist 1936 als Kaserne gebaut. Doch alles 2 Bettzimmer. Wo da wohl die Soldaten geschlafen haben? –   ¶   Ja, dieser Dr. F. gehört zu den Antroprosophen ist aber dabei noch Arzt. Er hat vor, mich auf die Mistelbehandlung richtig einzustellen. Aber erst muß bei mir noch herausgefunden werden, wo mein Immunsystem noch in Ordnung ist. Ein Zuviel an Mistel bringt auch den Körper aus seinem Gleichgewicht. –   ¶   So, lieber M, schreib mir was die Fahrräder machen und auch so. Herzlich Deine M.



[ erlebt: 23-jährig / 1989 ]
[ Medium: Brief ] [ Archivierung: Arbeitszimmer / Schreibtisch / Ablagebox / Briefmarken-Etui ]

m43
Diesen Brief habe ich nun schon viele Jahre in meiner Schreibtischbox. Als letzten Gruß meiner Mutter habe ich das Kuvert unter den Briefmarken oft vor Augen, doch gelesen hab ich ihn seit damals nicht mehr, zu groß die Angst vor der erneuten Trauer, Schmerz, Tod und Verlust.
       Als kleines Kind verstand ich plötzlich eines Abends, was der Tod bedeutet. Und in grauenvoll logischer Konsequenz dämmerte die Erkenntnis, dass nämlich auch meine Mama sterben wird. In meinem nächtlichen Bett weinte ich ohne Ende, bis mein kleiner Bruder aus dem oberen Stockwerkbett krabbelte und meine Mutter holte, die mich dann tröstete. Sie werde so bald nicht sterben, Menschen leben lange und wenn es doch soweit sein wird, werde ich selber Kinder haben und es wird nicht mehr so schlimm sein...
       Als ich Jahre später diesen Brief von meiner Mutter erhalte, schließt sich der Kreis. Sie hatte Krebs und Chemotherapie, für mich war sie krank, aber nicht am Sterben und das sah sie genauso. Selbst dieser Brief aus einer Hamburger Klink, der mich in der Fremde an meinem Studienort erreicht, lebt noch von der Hoffnung auf Genesung.
       Nur wenige Tage später werden bei Mama überall Metas­tasen gefunden, auch im Kopf, sie stolpert wenn sie gehen will und nun will sie nach Hause. Als ich dort ankomme, liegt Mama im offenen Sarg und ihre Hand ist kalt. Was mir bleibt, ist dieser Brief und die Erinnerung.


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