Zeitungsliebe


Fast immer fängt so ein Leben am Anfang an, im Krankenhaus, bei der Geburt. Krankenhaus ja, Geburt nein, aber knapp acht Jahre später. Kranksein ist Mist, besonders, wenn man liegen muss, acht Wochen oder so. Und als Verschärfung: Besuch bekommen darf man auch nicht. Isolation, nur täglich die Eltern hinter dem Fenster. Aber nicht lange, dann lag mein Vater neben mir. Acht lange Wochen bei Quark-Diät und Bauchwickel. Und dass kurz vor Ende der Fibel, meinem ersten Lesebuch. Täglich Fiebermessen, fades Essen, Visite und ein Klo mit Desinfektionsschüssel und der Geruchsmischung von all dem und heimlichen Ziga­retten. Und dann war da noch der alte Mann mit seiner abgeschabten Ledertasche. Er war es, der neben dem kleinen Radio, aus dem mehrfach am Tag dieses „Dum-Dum-Dum, hier ist der deutsche Soldatensender. Wir senden täglich…“ klang, etwas von draußen in das karge Doppel-Zimmer am Ende des Flures brachte. Schwarz-Weiß-Geschriebenes und manchmal eine Bunte, was für solche Illustrierte wie „NBI“, „Für Dich“ und die Sowjetfreundschaftszeitung „Freie Welt“ stand. Plötzlich hatte ich täglich nach der Fibel-Lektüre neue Lesebücher. Mein Vater überwachte sechs Erscheinungstage die Woche meine buchstabierenden ersten Zeitungsleser-Schritte. Manchen Beitrag las ich viermal.

Zwei Jahrzehnte später entstaubte ich Archivbände, um zu sehen, ob mein Gedächtnis diese erste Zeitungsseite richtig gespeichert hatte. Ja, es war dieses Bild mit den aus dem Zugfenster winkenden jungen Leuten in den blauen, was man natürlich wusste, aber in Schwarz-Weiß nicht sah, Hemden. Sie fuhren zu einer Jugendjubel-Fete in die Wische hinaus, wo sie zehn Jahre zuvor Gräben gezogen hatten.
Beim Blättern blitzen die Erinnerungen auf, Kinder in Vietnam, Demos im Westen, wofür und wogegen verstand ich nicht, der andere Kennedy-Bruder erschossen.

Mit acht begann ich diese Zeitung tagtäglich zu studieren. Und verstand sie immer öfter. Mit der Nähmaschinen-Schere meiner Mutter trennte ich wichtige Beiträge heraus. Bevor die Zeitung ausgelesen im Zeitungsständer gelandet war und nicht gerade geschnitten, meinte mein Vater.
Der Schrank meiner Großeltern, der immer so gut roch und den ich erbte, erwies sich als Lieblingsfundgrube. Im untersten Fach stapelten sich korrekt rechts die „NBI“, links die „Für Dich“ des letzten halben Jahres. Kein Exemplar ging weg, bevor ich sie nicht mit Schere und Stift durchforstet hatte. Jeden Mittwoch führte der Weg am Zeitungs­laden an der Ecke gegenüber vom Rathaus vorbei. Über Jahre das gleiche Zeremoniell: Die Frau zieht die grüne Zeitung irgendwo hervor, meine Oma zahlt 30 Pfennig und am Abend vertiefte sich mein Opa in das Kreuz­worträtsel. Ich am nächsten Tag während der familiären Mittagsruhe in den seltsamen Gerichtsbericht, in dem lauter Tiere agierten. Selbst der Autor hieß Hirsch.


[ erlebt: 8-jährig / 1968 ]
[ Medium: Text-Datei ] [ Archivierung: Mac-Festplatte / Ordner: Texte / Buchprojekt / Word-Datei ]

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Die Geschichte meiner »Zeitungsliebe« ist einfach ein Klarmachen, wie ich zum Zeitungsmachen kam. Das habe ich niedergeschrieben und fand da doch etwas von Wurzeln heutigen Tuns. Das soll für meine Kinder Erklärung sein, was mich seit dem achten Lebensjahr mit den Buchstaben verbindet. Die Zeitungsseite wurde damals vernichtet, weil ich auf der Iso (Quarantänestation) lag und nichts, mit dem ich in Kontakt gekommen war, raus durfte. Jahre später fuhr ich ins Archiv, um mir besagte Titelseite noch einmal anzusehen und um eine Kopie zu machen.


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