Frühjahr 1998



TRANSKRIPT
LINKS 20.04.98   ¶   Hallo! Gestern ist noch ziemlich viel passiert, v.a. im Bezug auf Oma. Nach Ich wachte am Morgen ohne geweckt zu werden um zehn nach zehn auf und es gab ein leckeres Frühstück, wie immer eigentlich. Aber diesmal haben wir fast alle zusammen gefrühstückt, d.h. nur Papa nicht. Wir verbrachten den Vormittag mit Billiardspielen, Geschenke bestaunen, Gitarrespielen etc. Mittagsessen gab’s keins, besser so. Während Dietmar und ich Käsekästchen spielten und Asse-raus, wobei ich jedes Mal gewann, holte Frank Oma K. und Papa Ingrid und Oma L. ab und Christoph ab. Ich mußte da bleiben, weil Tante Lieschen und Julia ja auch kommen sollten. Als erstes waren Papa mit der Avenwedde Sippschaft da. A Von Oma L. bekam ich 100 DM, von Tante Ingrid eine Vogeltränke (ha, ha)! Komisches Geschenk. Ich wollte sie aber trotz-

RECHTS dem nicht, daß sie sie zurücknimmt, im Gegensatz zu Papa. Außerdem bekam ich einen weiteren Oster­hasen. Dann trudelten Julia und Tante Lieschen ein, von denen ich eine silbernes Armband un einen Blumenstrauß (Julia) Choco Crossies, Toffifee, Nuß-Splitter und 20 DM von Lieschen. Damit waren wir fast komplett. Um ca halb vier kamen auch endlich Frank + Oma und (Christel war auch schon da) und besetzten den Kaffetisch, genau mit einem Platz zuwenig. So aß Papa später im Schaukelstuhl. So ging der Nachmittag schnell ’rum. Papa fuhr mit Ingrid, Tante Lieschen, Christel und ... sich in den Stadtpark. Julia, Christoph, Dietmar und Kazi gi und ich gingen ’ne kleine Runde. Frank blieb mit den Omas da Heim. Als wir zurück waren, spielten wir Topfschlagen. Ich fand den Topf schneller als Frank! Jahaaa! Irgendwie verbrachten wir den Nachmittag. Dietmar fuhr um viertel vor sechs, leider. Zu Essen



LINKS gab es wieder Hühnchen in der ”Sahne-Pampe“ und Kartoffel-Plätzchen, Kräcker, wie auch immer. Schon beim Kaffee bzw nach dem Kaffee waren alle Randvoll, bei drei Torten: Christels Negerkusstorte, Erdbeertorte von Ingrid, Käsesahne von Copperat & Wiese, Oblatenkuchen von Birkholz und einen ganz leckeren Stracciatellakuchen mit Schokoüberzug von Christel. Leider aß Oma kaum was. Vom Abendessen noch weniger als beim Kaffee. Sie verbrachte die meiste Zeit im Schaukelstuhl und unterhielt sich mit Oma L. Tja, Julia, Christoph and me jagten uns noch durch Christels und unseren Garten. Un Dann wurde sich wieder viel unterhalten. Um viertel nach neun drängte Lieschen wieder, sie wolle los. Julia müsse zur Schule. Aber Julia konnte sie bequatschen. Sie sagte ihr, sie müssten noch nicht los. Da fing T. Lieschen mit Karl an und da meinte Papa der wäre

RECHTS froh, wenn er alleine wäre, wobei ihm Julia zustimmte. Wir machten no einen „Ringkampf“ mit Christoph, der eher so aussah, daß wir ihn an Armen und Beinen festhielten. Um viertel oder zwanzig vor neun fuhren Lieschen und Julia wirklich. Dann Christel fragte irgendwann Papa, ob er Oma nicht bald zu uns holen wolle, es ginge nicht länger. Er meinte das stimme wohl und er wolle sie fragen, wenn Frank wieder weg ist. So lange wartete er aber doch nicht und fragte sie sofort. Sie und Frank, der bei ihr saß, waren ganz überrascht. Und Oma freute sich richtig. Sie vergewisserte sich, was er gesagt hatte, ob er das wirklich wolle, daß sie es sich insgeheim gewünscht hatte und vielleicht nur deswegen noch so lange da war. Frank und Papa machten alles klar, d.h. besprachen, daß sie sein Bett abbauen und ein bequemes



LINKS für sie vom Boden aufstellen wollen und das Zimmer richtig Oma gerecht herrichten wollen. Oma freute sich wirklich. So alleine in ihrem Zustand ist wirklich nicht gut, nicht für die Gesundheit und nicht für die Psyche. Und mit ihr freuten sich alle, weil sie glücklich war. Um viertel vor elf fuhren wir alle mann bzw. Frau los, Ich mit Frank und Oma. Ich war gestern ein bisschen enttäuscht, weil nur L. angerufen hatte, sonst niemand, nobody. N. hatte es mir letzten Sonntag versprochen und von B. hatte ich es als beste Freundin erwartet N. kam heute mit der fadenscheinigen Begründung, ihr wäre es erst um elf im Bett eingefallen und B. hatte sogar die Dreistigkeit zu fragen, ob ich gestern oder heute hatte bzw. habe. Das hätte ich nun nicht für möglich ge-

RECHTS halten. Ich weiß schließlich auch, daß sie am xx.xx. Geburtstag hat.   ¶   Wir brachten Oma noch ins Bett bzw. in den Sessel. Sie meinte auch, daß sie wohl vor Aufregung nicht schlafen könne. Um zwanzig nach elf fuhren wir von ihr weg. Zu Hause war Papa noch nicht und so räumten wir alles auf. Bis viertel nach zwölf blieben wir noch im Wohnzimmer und unterhielten uns. Frank sagte, wie froh er doch sei, und daß er jetzt beruhigt fahren kann, weil er weiß, daß wir auf Oma aufpassen; ihr Kapseln, Essen geben und die Beine wickeln, bei den Treppen helfen. Ich war auch richtig glücklich, als Oma zustimmte und sich so freute. Ich hatte fast Freudentränen in den Augen. Heute als ich aus der Schule kam, aßen wir die Reste von gestern; dann fuhren wir rasch zu Oma, ohne die



LINKS Zähne geputzt zu haben. Franks Zimmer war vormittags von den beiden leer geräumt und hergerichtet worden. Oma lief immer noch im Nachthemd ’rum, als wir kamen. Sie wollte nichts essen. Frank und ich suchten zwei Taschen für sie zusammen, und Medikamente usw., Kleidung und und und... Wir Ich schmierte ich noch ein Honigbrot, das sie aber nur anbiß, entsorgten alle Lebensmittel aus dem Kühlschrank, sehr alte. Ich fand irgend so ’ne schm Bauernwurst im Glas und die war haltbar bis End (haltet euch fest, schnallt euch an!) bis Ende 1982. Im Kühlschrank stand die noch. Seit über 16 Jahren! Wir mußten uns beeilen, weil wir um halb vier wieder los wollen. Ich mußte nämlich um viertel nach vier zu Gitarre. Um kurz nach halb kamen wir

RECHTS hier an. Oma setzten wir ins Wohnzimmer, ihre Sachen schon nach oben, wo auch der Schaukelstuhl aufgestellt war. Wir aßen Kuchen von gestern, ich spielte noch Gitarre, die Christiane rief wieder an... (Frank hat die Nase voll von ihr) und ich fuhr los. Zum Glück hatte mir Frank versprochen noch zu warten, bis ich wieder da bin. Bei Gitarre war’s ganz gut mit Bettina. Wir spielten schon den 1. Satz der Suite Latina. Ich spiele 3., Bettina 2. Stimme. Ihre ist zwar etwas schwieriger und sie hat es größtenteils besser hingekriegt. Aber dafür habe ich meinen Blues besser gekonnt als sie ihre Stücke (u.a. swe killing me softly, chariot of fire (oder so)). Ich fuhr danach schnell heim. Frank hatte in der Zeit Omas Sachen prima ausgeräumt, und seine ins Auto eingeräumt. Er zeigte mir noch alles und fuhr so ca. halb sechs. Diesmal war ich nicht so traurig wie sonst und konnte ihm



LINKS sogar in die Augen sehen, ohne daß er mir peinlich war weinend gesehen zu werden. Das liegt wohl daran, weil Oma jetzt da ist, und es nicht ganz so normal wie sonst immer ist. So war dann auch Frank weg, meine letzter Geburtstagsgast, wie er sagte. Ich habe inzwischen schon Jeansteile an meine blaue Kord Hose geheftet, weil die etw. kurz ist. Aufräumen sollte ich jetzt vielleicht auch mal. Außerdem läuft Akte X. Oma sitzt immer noch eingepackt im Schaukelstuhl und ißt ein wenig. Jedes Nachrichten hat sie auch gesehen (wahrscheinlich nur die Hälfte durch ihre Einnickerchen) aber der gute Wille zählt. Sie bedankt sich jedesmal, wenn wir rein kommen und eine Kleinigkeit für sie tun. Ich hoffe sie hört bald auf damit. Wir tun das doch gerne und es ist selbstverständlich.

RECHTS Übrigens haben sie Philipp und Niko heute was ganz dreißtes geleistet: Während ich draußen stand muß wohl einer von ihnen an meinen Rucksack gegangen sein und zwei Bountys rausgeholt haben, die noch für Frau L.B. und Herrn Schade (heute mit neuer Brille, er sah richtig krank aus). Ich war richtig sauer. Ich hätte die 2 Ih Snickers nicht Gunnar und Matthias geben dürfen. Die wollten doch eh nur schleimen. So genug!   ¶   21.04.98   ¶   Hallo! Eben war diese dumme Ärztin da um nach Oma zu sehen und ihr Blut abzuzapfen. Als sie ging und unten noch mit Papa sprach, dachte ich, ich traue meinen Ohren nicht. Sie faselte davon, man könne es nicht mehr aufhalten. Alles Essen was man ihr gibt soll der Krebs, der Tumor für sich verwenden. Man soll ihr so viel



LINKS Kapseln geben, bis sie keine Schmerzen mehr hat, als wenn nötig mehr als zwei. Der Kreislauf liefe kaum noch und versorge nur das nötigste, so daß sie ständig kalte Hände und Füße hat. Man könnte nichts mehr tun, außer ihr Medikamente zu geben, daß sie sich nicht quält. Irgendwann würde sie einfach einschlafen. Papa stieg natürlich sofort drauf ein, sagte daß das wisse er, erzählte von Günter J. Er hat sie ja auch längst aufgegeben. Ach ja. Sie hatte vorher noch gemeint, sie litte an Eiweißarmut und deswegen könne das Wasser nicht im Gewebe gehalten werden und sacke deswegen in die Beine. Sie hat Wasserentzug dadurch und muß viel trinken. Das einzige, was in ihrem Körper noch arbeite sei der Tumor. Dabei hat Frank doch erzählt, daß Tumore bei

RECHTS alten nur ganz, ganz langsam wachsen. Ich war stink sauer und traurig. Als sie weg war, rannte ich runter beschimpfte über sie und weinte. Ich habe mir doch solche Hoffnungen gemacht. Ich sagte oder rief Papa, daß ich wolle, daß es Oma besser geht, sei es nur, um die dumme Tussi zu ärgern. Die hatte noch gesagt, man könne das ganz offen bereden und brauche nicht um den heißen Brei herumzureden, Sie wisse es ja selbst. Papa meinte, sie hätte sich auch schon von allen verabschiedet. Quatsch! Ich überlege mir, ob ich Frank schreibe und ihn frage, was er davon hält. Er hat ja auch noch Hoffnung. Ich ging auch davon aus, daß Oma zu uns gekommen ist um gesünder zu werden und nicht um zu sterben. Papa meinte, sie könne nicht ins Wohnzimmer, weil er sie die Treppe nicht hochkriegt. Wird sie ihr Zuhause, die Aus-



LINKS ternbrede wohl je wiedersehen? Diese verdammten Ärzte. Sie war doch damals nach der Brustoperation bei der Krebsnachsorge. Es wurde doch immer getestet, ob sie Krebszellen im Blut hat von Tumoren war doch nie die Rede. Dann haben sie Oma immer Scheiße erzählt. Sie dacht, sie hätte den Krebs besiegt.jetzt kann ich bestimmt nicht mehr in Omas bzw. Franks Zimmer ohne zu weinen oder traurig zu werden. Ich weine schon wieder. Ich muß mich ablenken.   ¶   22.04.98   ¶   Ihr Lieben! Oma scheint es wirklich immer schlechter zu gehen. Ich wünschte nur Frank wäre hier oder hätten wenigstens Kontakt zu ihm. Ich kann gar nicht glauben, RECHTS daß Frank und ich mit Oma neulich (vor 2 Wochen ca.) so weit spaziert sind und sie noch weiter wollte. Papa meinte, Oma baut immer und immer mehr ab, d.h. ihr Kreislauf. Der Körper will auch kein Essen mehr, und wenn er’s bekommt bricht er es aus. Frank könnte ihr vielleicht gut zureden. Ich mu kann das nicht und Papa ist ja sowieso überzeugt, daß sie’s nicht mehr lange schafft. Tagsüber geht’s ihr relativ gut, was man unter ihren Umständen als gut bezeichnen kann. Nachts hat sie nur Schmerzen und jault immer. Im Kreuz, wie sie sagte, verbesserte sich aber mit überall. Ich bin hin- und hergerissen und weiß nicht, wer mehr Ahnung hat: Frank oder diese dumme K.. Und Oma war noch im Krankenhaus so guter Dinge und freute



LINKS sich nach der Operation es überstanden zu haben. Sie sagte sogar einmal, sie wolle wenn sie zu Hause ist und es ihr gut geht zum Kirchenkreis der Senioren gehen. Ich muß das Thema wechseln sonst habe ich morgen früh wieder so verkwollene Augen. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin froh, daß Mama starb als ich noch klein war und von nichts ’ne Ahnung hatte, sonst hätte ich bestimmt nicht gewusst, wie’s weitergeht.   ¶   Ich war heute nach langer, langer Zeit wieder beim Sport, mit dem Fahrrad. L. war nicht mit, weil sie auf der Suche nach ’nem Praktikumsplatz war. Das war vielleicht hart. Nicht nur, weil ich länger ausgesetzt habe, sondern weil wir ’nen neuen Trainer haben, Herrn K., Christian

RECHTS K.. Der ist hart: 4 Runden Einlaufen, zum Schluß 3 Diagonalen. Ich habe meine Beine kaum noch hochgekriegt. Beim Hürden bin ich sogar hingeflogen und das Bein aufgeratscht. Ziemlich scheiße. Morgen ist der 1. Bronze-Tanzkurs. Ich bin ja wirklich gespannt, ob ich ’nen festen Tanzpartner abkriege. Wenn nicht, muß ich wohl aufhören.   ¶   24.04.98   ¶   Ist das eine Scheiße! Diese Nacht hat Oma so laut vor Schmerzen gejammert, daß ich sogar aufgewacht bin. Ich bin schnell zu Papa und der hat sich dann um sie ge­kümmert. Wir hatten sie abends nicht ins Bett gelegt, weil sie dort zu große Schmerzen hat, sondern in den Schaukelstuhl gesetzt, da sie es tagsüber dort nicht so schlecht hat. Es wird wirklich immer schlimmer: Sie geht



LINKS nur noch morgens und abends aufs Klo und sitzt sonst nur im Stuhl. Nach der Sitzung mußte ich ihr gestern die Unterhosen wechseln und hochziehen. Selbst das ist schon unmöglich für sie. Gestern war Tante Lieschen noch mal da. Sie hatte angerufen und Papa fragte, ob sie Oma noch mal sehen wolle. Sie war nur 20 Minuten bei ihr. Zum Schluß sagte sie, es sei nur noch eine Quälerei für sie. Ein Brief von Frank ist heute auch gekommen u Er hat von seinen Beschäftigungen geschrieben, denen er schon nachgekommen ist. Oh wenn er wüßte wie es jetzt um Oma steht. Er war ja so froh, daß sie zu uns konnte, genau wie ich. Aber ich habe mir das fälschlicher Weise ganz anders und schöner vorgestellt. Ich dachte bei schönem Wetter würd sie draußen sitzen, wir würden zusammen

RECHTS in der Küche Mittagessen... und und und. Aber sie hat sich auch alles anders vorgestellt. Neulich sagte sie noch im Badezimmer, als ich ihr ins Nachthemd half. Das ist nur der Anfang, das wird bald besser. Damit meinte sie, daß sie uns nicht so sehr in Anspruch nehmen muß. Vorhin beim Mittag sagte Papa, als ich fragte warum ich Oma nicht mal fragen könne, ob sie Griesbrei essen will, daß heute die Ärztin kommt, weil Oma das so gewollt habe. Vielleicht sei es besser, Oma käme ins Krankenhaus, wo sie eine Infusion bekäme, damit sie so langsam einschliefe. Ich war entsetzt und fragte, was denn aus der Blutabnahme geworden sei. Papa meinte sie hätten durch ihr Blut festgestellt, daß die Niere nicht mehr funktioniere und Omas Blut immer mehr vergifte. Auch ihre Leber funktioniere



LINKS nicht mehr richtig und könne kein neues Blut bilden. Ist das nicht schrecklich. Oma würde vergiftet werden, durch sich selber. Und als Frank ihr immer zugeredet hatte, sie so könne essen, ihre Organe seien gesund, lag er also ganz falsch. Ja, und jetzt bekomme ich wirklich mit, wie Oma stirbt. Nein, am sterben ist. Sie hat eben noch gesagt: „C., mein Engel.“ Da war mir ganz schön komisch. „Jetzt geht es zu Ende.“ Oder so ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Oma tut mir so unendlich leid. Ich weiß gar nicht, wie das Leben ohne sie sein wird. Keine Besuche bei ihr mehr. Kein Weihnachten und Geburtstag. Ich werde mir keine Fotos mehr angucken können, ohne zu weinen. Garantiert. Genau wie jetzt, wenn ich darüber schreibe.

RECHTS In Gegenwart von Oma oder Papa versuche ich aber stark zu sein und gehe notfalls raus. Gleich kommt die Ärztin, um ihr eine Spritze zu geben, gegen die Schmerzen. Und sie wird wohl entscheiden, ob Oma ins Krankenhaus geht. Dieser Scheiß Krebs! Wäre er nicht, Oma hätte das Potential 90 zu werden.   ¶   Christel geht es auch nicht gut. Letzte Woche hat es mit Rückenschmerzen angefangen und jetzt hat sie sowas wie eine Grippe. Heute ist Freitag, also Wochenende. Ich glaube aber, es wird nicht so toll. Heute wollen einige in Scream 2. Ich weiß noch nicht, ob ich auch hinfahre. Morgens ist Manfred’s Feier. Er feiert in seinen Geburtstag rein. Sonntag wollte ich eigentlich mit L., C., und B. Inline-Skaten. Ach, was würde ich



LINKS darum geben, Oma ginge es gut, lebe noch an der Austernbrede, rüfe jeden Tag einmal an und erzählte, was sie zu Mittag hatte. Jetzt hat sie wieder was. Sie stöhnt laut.   ¶   So, da sind wir wieder. Die Ärztin war vorhin da. Auf Papas Wunsch hat sie Oma dann ins Krankenhaus eingewiesen. Sie hat es Oma so erklärt, daß sie dann keine Schmerzen mehr hat, weil ihre Kapseln nicht mehr helfen. Bevor die Ärztin kam, hat Oma mich zu sich gerufen und meinte, sie müsse mir was wegen der Erbschaft sagen: Ich könne alles haben und was ich nicht haben will, sollen Di meine Brüder kriegen. Dann sollte ich zu ihr kommen um m um mir die Hand zu geben. Und da weinte ich los. Sie steichelte meine Hand und meinte ich solle nicht weinen, nicht traurig

RECHTS sein. Aber ich habe nur noch geweint. Dann sagte sie, wenn ich ihr nochwas zu sagen hätte, solle es ich jetzt tun. Das war und ist so unendlich traurig. Dann kam auch schon die Ärztin. Ich glaube Oma wäre lieber hier geblieben oder hätte wenigstens lieber gründlicher darüber nachgedacht. Die Ärztin sagte noch, wir hätten die Entscheidung für sie schon getroffen. Oma hätte noch gern mit einem nahen Verwandten gesprochen, aber Papa konnte ihr erklären, daß sie Ärzte was gegen die Schmerzen und wichtige Infusionen haben, da sie ja nicht mehr ißt. Oma wollte auch von der Ärztin wissen, was sie ganau hat. Die sagte ihr dann Krebs in den Lymphdrüsen und in der Schilddrüse. Während die Ärztin noch da war, mußte ich mich so beherrschen und bin im-



LINKS mer wieder ins Zimmer gegangen. Auch später, als die Ärztin weg war und Oma überlegte, saß ich auf der Treppe oder ging ins Badezimmer und Oma mußte mich immer wieder rufen zu kommen. Sie wollte wissen, was sie machen soll. Was ich an ihrer Stelle täte. Dann rief Papa den Krankenwagen, die eigentlich so ’ne Transportbescheinigung mitbringen sollten, Papa aber vergessen hatte es ihnen zu sagen. Ein großer Krankenwagen kam, als ich Omas Sachen eingepackt hatte. Sie kamen nach einiger Zeit mit einem Tragestuhl hoch und setzten sie rein, trugen sie dann runter, legten sie auf die Trage. Zuerst kam Oma kaum auf den Stuhl und der eine Sanitäter stellte fest, daß die Verbände viel zu fest gewickelt seien.

RECHTS Aber Frank hatte doch gesagt, sie sollen fest sein, damit ein Gegendruck ausgeübt wird. Dann wurde Oma nach Um schmerzhaftem Umbetten auf die Liege gelegt und nach mehreren Versuchen schließlich erfolgreich in den Wagen geschoben. Der eine nahm mir Omas Tasche ab und das war das letzte Mal, daß ich Oma heute sah. Papa und ich mußten zur Ärztin diese Bescheinigung holen und wollen dann ins Krankenhaus nachkommen. Unterwegs erklär erzählte mir Papa, daß auch seine Mutter mal Nierenversagen hatte, 2 Wochen nichts trinken durfte und in dieser Zeit zwischen Leben + Tod schwebte. Nach 2 Wochen habe sie 1l trinken sollen, wenn sie die Niere es nicht geschafft hätte, wäre Oma L. schon tot. Das sei auch der Grund gewesen, warum die Kinder mit 9, 11 und 13 mit ihr nach Avenwedde



LINKS mußten. Dann fragte er noch, ob ich es nicht auch besser fände, Oma ins Krankenhaus zu bringen. Es wäre doch ein schrecklicher Gedanke man müsse irgendwann in Franks Zimmer und fänd sie letztendlich tot auf. Das würde immer an dem Zimmer ”haften“ bleiben. Und wir hätten außerdem einen Arzt bestellen müssen, der den Totenschein ausfüllt und das Beerdigungsinstitut. Im Krankenhaus wäre alles viel einfacher. Da hat Papa natürlich Recht. Es wäre ein schrecklicher Gedanke, wenn man wüßte, daß Oma un das Zimmer bzw. unser Haus nicht lebend verlassen hat. Papa meinte im Krankenhaus werden sie ihr starke Spritzen geben und irgendwann schliefe sie ein und wacht nicht mehr auf. Die Ärztin habe Papa auch gesagt, wenn er ihr

RECHTS 2 Kapseln gegeben hätte, wäre sie wahrscheinlich auch einfach eingeschlafen. Aber zu Papa sagte ich, sie hat doch schon mal 3 genommen und nichts ist passiert. Papa meinte nur, jetzt sei sie inzwischen schon viel zu schwach. Ich meinte, er hätte das gar nicht gedurft und die Ärztin habe noch gemeint, sie könnte das auch für ihn machen. Das nenne man Sterbehilfe. Ich dachte immer, die sei verboten. Wir fuhren danach ins Krankenhaus und warteten ca. eine halbe Stunde. Ich las in der Zeit den Stern. Irgendwann ging Papa nachfragen, was denn mit ihr sei. Zuerst mußten wir ja warten, weil noch ein Arzt bei ihr sei. Dann kam er wieder und meinte wir könnten fahren, weil sie ihr eine Beruhigungsspritze gegeben haben und sie bis morgen mittag schläft. Papa meinte er habe



LINKS ja das Gespräch zwischen der Ärztin und dem Krankenhaus gehört und es werde wohl kaum länger als 3 Tage dauern. Er sagte, die Ärzte wollen noch die Lunge rönchen, um zu sehen wie hoch der Wasserstand ist. Weil ihre Lymphknoten von Krebs verstopft sind, wird das Wasser nicht zurück transportiert und o es steigt immer höher, oben vertrocknet sie. Wenn es bei der Lunge angelangt, würde sie sterben. Ist das nicht schlimm. Ertrinken im eignen Körper! Das Leben ist doch grausam. Auf der Rückfahrt meinte Papa, wenn man Krebs habe, versage am Ende fast alles. Oma tut mir so leid. Sie hatte zu mir noch gesagt, bevor die Ärztin kam, daß sie alles nur für ihre Enkelkinder getan hat. Ich wünschte, ich hätte ihr etwas sagen können, als sie

RECHTS meinte, wenn ich ihr noch was zu sagen hätte, solle ich es tun. Aber ich habe nur geweint. Nichts ist mir eingefallen. Die Fr. Dr. M. habe zu Papa auch gesagt, daß es gut war, daß sie ins Krankenhaus gekommen ist, und daß sie wußte, daß es so endet. Und ich Naivling dachte wirklich nach der Operation wird’s besser.   ¶   Aber Oma wird es auf jeden Fall besser gehen, wenn sie’s überstanden hat, das weiß ich doch. Sie wird dann bei Mama, T. Emmi, ihrem Mann, T. Leni und allen anderen sein und auf uns herabsehen. Sie wird auch sehen, wie es mit mir bzw. uns weitergeht. Das will ich jedenfalls hoffen. Es ist so schrecklich, wenn ich bald denken muß: „Als ich ... zuletzt gemacht habe, hat



LINKS Oma noch gelebt.“   ¶   Was werden Frank und Dietmar bloß sagen. Sie werden wohl früher als Mai/Juni kommen müssen. Man Ich habe Papa war gerade ’ne ganze Weile da und wir haben über Oma gesprochen. Ich glaube so doll habe ich bis jetzt noch nie in meinem Leben geweint. Papa meinte, sie wäre jetzt zwar noch ansprechbar, hören würde sie einen aber nicht mehr und sprechen würde sie auch nicht mehr. Unter einer so hohen Morphiumdosis würde sie gar nichts mehr mitkriegen. Und ich habe mich gar nicht richtig von ihr verabschiedet, als die Tür vom Krankenwagen zu ging. Jetzt wird sie wohl nie wieder mit mir sprechen, wenn Papa Recht hat. Und sie dachte noch, es wird so wie damals im Krankenhaus.

RECHTS Ihren Wecker sollte ich ihr noch einpacken. Papa sagt immer: „Sie hatte doch wenigstens fast 84 Jah schöne Jahre, ohne Krankheiten. Na toll! Was hab ich von ihren 84 Jahren, wo ich nichtmal alle 16 Jahre ni richtig miterlebt habe. Ich kann es mir nicht vorstellen einen ein Leben ohne Oma.   ¶   Die Schmerzen sollen auch von dem vielen Wasser kommen, das auf die Organe und die Wirbelsäule bzw. das Kreuz drückt. Da reiht sich alles aneinander. Papa meinte auch, sie hätte seit der Brustoperation immer Krebs gehabt, er wäre nie weg gewesen. Schon damals habe es geheißen: entw. Chemo oder Tod. Sie meint soll gemeint haben, wenn sie noch ein paar Jahre hätte, würde es



LINKS ihr genügen. Und jetzt hätte sie noch 7 Jahre gehabt. Papa hat ja gesagt, daß seit der 2. Operation klar war, daß es nicht mehr lange dauert, aber ich kann mich erinnnern, daß irgendein Arzt gesagt hat, 2 oder 3 Jahre habe sie noch. Darüber war sie noch glücklich, während es mich schon traurig gestimmt hat. Warum muß es für sie so enden? Nicht nur sie wird gequält, sondern auch wir. Jetzt heule ich schon vor ihrem Tod anstatt danach, obwohl ich danach wohl noch viel mehr weine. Neulich meinte ich noch, als ich sie so kläglich jammern hörte: „Oh lieber Gott. Hör auf damit! Mach sie entweder gesund oder laß es sein.“ Ich weiß nicht, wie ich jemals damit fertig werden soll. Damals bei

RECHTS Mama war ich klein und hatte noch Oma. Und was passiert jetzt? Das Leben, nein der TOD ist so fies und gemein. Nicht für den Sterbenden, sondern für die Leute, die ihn lieben. Damals, als ich bei ihr wohnte, habe ich mir nach Streit oft gewünscht oder vorgestellt ich könnte auf ihr herumtrampeln. Und was habe ich mich aufgeregt, wenn sie wieder anrief und mich volllaberte. Das wird nun nie, nie wieder vorkommen.   ¶   25.04.98   ¶   Wir waren eben (11:15 – 12:?) im Krankenhaus. Es war nicht so wie Papa gedacht hatte. Oma war mehr oder weniger wach und hat uns auch noch erkannt, zwar nicht sofort, aber naja. Wir haben sie mit Joghurt und mit Astronauten-



LINKS nahrung aus der Schnabeltasse gefüttert. Aber richtig gesprochen hat sie nicht mit uns. Wenn sie geredet hat, dann nur nuschelig, so daß wir nichts oder nur kaum was verstanden. Zwischendurch mußte sie noch auf die Pfanne. Wir haben allerdings nicht erfahren, was bei der Rönchung der Lunge herausgekommen ist. Der Arzt war nicht da und die Schwestern hätten nichts sagen dürfen, auch wenn sie’s gewußt hätten. Man merkt, daß Oma vollgepumpt mit Medikamenten ist. Sie bewegt sich nur noch in Zeitlupe. Ich frage mich, ob sie böse ist, daß es m sie jetzt alleine in einem Zimmer des Krankenhauses liegen muß. Als wir gehen wollten, wollte sie das nicht, obwohl wir uns eh nicht unterhielten, sondern sie nur anstarrten. S Ich wurde richtig trau-

RECHTS rig und so blieben wir noch. Später wurde noch ein reichliches Essenstablett gebracht, und Papa meinte zur Schwester, sie esse doch eh nichts. Sie ließ es trotzdem da und ich fütterte Oma mit Pudding. Das Stück Zitronenkuchen aß ich dann auf. Papa meinte, Oma sähe besser aus und mir ging’s fast genauso. Wahrscheinlich liege das am Schlaf meinte er. Außerdem bekommt sie Infusionen, damit sie nicht austrocknet und eingecremt war sie auch worden. Irgendwann gingen wir dann doch. Oma starrte nur an die Decke und Papa wollte so gehen, aber das brachte ich nicht fertig. Einfach so verschwinden, ohne was zu sagen. Nachher würde sie uns noch was sagen wollen und keiner ist da? Nee, das ginge nicht. So sagten wir tschüs obwohl Oma das noch immer nicht wollte. Verständlich. Sie muß sich doch wie



LINKS abgeschoben vorkommen, so ganz allein am sterben. Papa erzählt ha hatte ihr auch erzählt, daß T. Herta gestern angerufen habe. Christel meinte, es sei wichtig, daß Oma weiß, daß ihre Geschwister an sie denken. Naja, ich sagte Oma, daß sie dann schlafen könne, wenn wir gehen und wir kämen morgen wieder. Dann sagte sie irgendwas, was wir nicht verstanden und als die danach nur noch da lag gingen wir leise. Aber trotzdem hatte sie sich in ihrem Zustand darüber Gedanken machen können, was mit ihrer Handtasche sei. Sie wolle sie gerne haben. Kurz bevor wir gingen, kam noch die Schwester, die das Essen gebracht hatte und fragte, ob wir für Oma noch eine Heilige Kommunion haben möchten. Papa sagte, daß sie evangelisch sei. Die Schwester wollte gucken oder nachfragen,

RECHTS wann ein Pfarrer kommen könnte, für die letzte Ölung, meinte Papa. Es war nicht klar, ob diese Woche noch einer kommen kann. Als wir zum Auto gingen, fragte Papa, ob wir doch Frank. anrufen sollen, weil sie wahrscheinlich heute stürbe. Ich verstehe j natürlich, daß sie so nicht mehr weiterleben kann, aber warum ich so wütend und traurig bin ist, daß sie so krank werden mußte. Wie schön wäre es, wenn es so wie früher wäre. Was wird bloß aus Totensonntag? T. Lieschen + Onkel Karl werden dann wohl nicht mehr kommen und ob wir am 1. Weihnachtstag noch zu T. Lieschen eingeladen werden, ist sehr fragwürdig. Oma weiß gar nicht, was für Lücken sie in unser Leben reißt.



LINKS 26.04.98   ¶   Gestern hat Manfred in seinen Geburtstag hineingefeiert. Es war eigentlich recht nett. Wir haben schon zu Anfang 10DM bekommen, ohne daß wir später was gemacht haben. Nachher um 1500 fahr ich zu B. Wir (B., C., ich und V. vielleicht) wollen bei Vossen Inlineskaten. Um 11:00 waren wir wieder bei Oma. Sie hat geschlafen. Wir standen ziemlich lange da, sagten nichts oder kaum was und beobachteten sie. Papa meinte sogar, daß es gleich zu Ende ginge, sie atme schon so langsam. Aber ich glaubte das nicht. Nachdem wir ca 20 Minuten dastanden, wachte sie urplötzlich auf und fragte: „Wer ist da?“ Sie erkannte uns erst nicht. Wi Ich gab

RECHTS ihr was zu trinken. Sie wußte gar nicht, wo sie war. Dann fragte sie wieder: „Was ist das bloß mit mir. Wißt ihr nichts?“ Erst sagte ihr Papa, daß sie starke Spritzen bekäme und deswegen so benommen sei. Als sie wieder fragte, erz machte er ihr klar, daß sie doch Krebs habe. Aber das wußte sie ja. Von ihrer Niere oder der Lunge sagten wir nichts. Plötzlich, als sie gerade 2 Teelöffel Suppe gegessen hatte, mußte sie ganz nötig aufs Klo und Papa versuchte schnell eine Schwester aufzutreiben. Als Oma auf dem Stuhl saß, machte sie ihr Geschäft und die Schwester stellte auch fest, daß sie wohl große Not gehabt habe. Was das erstaunliche ist: Oma wußte sogar den Namen der Schwester! I Als es schon zehn nach zwölf war, mußten wir los, da wir schon um viertel nach zwölf bei Christel



LINKS zum Essen sein sollten. Oma wollte natürlich nicht, daß wir schon gehen und fragte, ob wir wieder kommen. Wir versprachen es. Ich sagte: „Ja wir kommen morgen wieder.“ Und Papa: „Ja, wir besuchen dich wieder.“ Wahrscheinlich dachte er sich: ...auf dem Friedhof. Oma ist viel stärker, als er denkt. Er wunderte sich auch, daß ihr Herz das aushält. Jedenfalls war ihr Zustand heute nicht instabiler als gestern. Vielleicht sogar einen winzigen Tic besser.   ¶   27.04.08   ¶   Hallo!   ¶   Wir waren gerade wieder bei Oma. Sie meinte in ihrem benommenen Zustand sogar noch: „Es wird wieder besser.“ Leider wohl nicht. Sie sagt auch, daß sich noch Schmerzen habe, aber die Ärztin Fr. Dr. M. meinte, daß sie

RECHTS sich das nur einbildet. Als wir gingen verabschiedete sich Oma sogar mit Handgeben von mir und fragte mich sogar noch, ob ich kalte oder warme Hände habe. Als wir Später trafen wir noch die Ärztin und sie erzählte uns von dem Nierenaussetzen, was wir ja schon wissen. Sie meinte auch, daß es wohl nicht mehr besser wird. Aber diese Ärztin ist wenigstens so feinfühlig und knallt es einem nicht so ins Gesicht. Aber sie sagte auch noch, daß Oma oft sagt: „Meine Enkelin braucht mich doch noch.“ Das könne Oma trotzdem nicht ablegen meinte sie. Aber Oma hat völlig recht. Oma bekommt auch noch was eingeflößt, was die Funktion der Niere unterstützen soll. Papa meinte beim Fahren, wäre sie nicht ins Krankenhaus



LINKS gekommen, lebe sie bestimmt nicht mehr. Papa hatte wiedermal gemeint, daß sie nicht mehr 24 Stunden lebt. Aber das hatte er gestern und vorgestern auch behauptet. Oma ist stärker als er denkt. Das hat er auch im Auto zugegeben. Sie sei noch geistig ziemlich gut beisammen, dafür daß sie so starke Schmerzmittel kriegt. Frank müssen wir mal anrufen und bescheid sagen. Dietmar weiß es seit er gestern hier anrief. Und ich muß gleich zu Gitarre und danach zum Sport. Ciao.   ¶   28.04.98   ¶   Heute ist Dienstag, also ist sie drei Tag heute den 4. Tag im Krankenhaus. Papa und die Ärztin haben sie von vornherein maßlos unterschätzt.

RECHTS Die Fr. Dr. M. meinte auch, daß das Zucken von ihrem inneren Kampf kommt. Sie hofft oder glaubt immer noch mal auf die Beine zu kommen. Das finde ich wirklich großartig, auch wenn es eine unendliche Qual ist. Nachdem Papa heute wieder seinem obligatorischen Spruch loslies, Oma überlebe diesen Tag nicht, gab er zu, daß jeder andere schon 3x tot wäre. Es ist erstaunlich, wie sich ihr Unterbewußtsein so stark ist, wo sie bei sich zu Hause noch immer gesagt hat, es sei zu Ende. Gestern rief Frank an und rief mir ins Gedächtnis, daß Oma neulich beim Geldverteilen nocah gesagt hatte: „Naja, so schnell sterbe ich nicht.“ Frank konnte es auch kaum glauben, daß plötzlich alles so schnell ging. Papa ho war es von vornherein klar gewesen und tut bei den Ärzten so, als wäre es selbstverständlich. Das hasse ich.



LINKS Oma hat heute schon gar nicht mehr die Augen aufgekriegt. un Reden wollte sie zuerst, aber es kam nichts verständliches dabei heraus. Wißt ihr was? Wenn man sich erst einmal richtig ausgeheult hat, wie ich am Freitag, ist es viel einfacher sich nicht zu weinen. Neulich am mit Dietmar oder gestern bei Frank am Telefon oder bei Oma im Krankenhaus habe ich überhaupt nicht den Drang zu Weinen, das ist irgendwie seltsam. Hoffentlich werde ich nicht für hartherzig gehalten. L. tut zur Zeit so, als ob sie wer weiß was für ein Schicksalsschlag getroffen hätte, weil J. Schluss gemacht hat. Und mir merkt niemand was an, obwohl es mich viel schlimmer trifft. Vielleicht will sie auch nur Mitleid erregen. Ich wünschte ich hätte ihre Probleme.   ¶   Noch was! Ihr werdet es nicht glauben,

RECHTS aber Papa hat heute schon ausgerechnet, wann die Beerdigung wäre, wenn Oma heute noch stürbe, nämlich Samstag. Ansonsten Montag! Ist das nicht schlimm? Samstag würde mir am besten liegen. Aber da habe ich jetzt Quatsch geschrieben.   ¶   01.05.98   ¶   Ihr Lieben!   ¶   Oma ist vorgestern Nacht gestorben. Um halb zwölf klingelte das Telefon, nachdem am Abend Dietmar und Manfred angerufen hatte um sich zu erkundigen, und das Elisabeth war dran. Ich lag gerade im Bett und hörte Frank weinend die Treppe rauf laufen. Ach ja, ihr wißt ja nicht, daß Frank Mittwoch Abe Dienstag Abend noch gekommen ist, als ich gerade Romeo & Julia gesehen habe. Bevor er zu uns kam, war er noch im Kranken-



LINKS haus. Er sagte nach längerer Zeit habe sie: „Frankchen“ gesagt. Er hat es richtig gemacht und ihr erzählt und Zeitung vorgelesen. Papa und ich standen nur da und sagten nichts. Das war falsch. Am Mittwoch Nachmittag waren Frank und ich nach Drama noch kurz bei der Austernbrede um nach dem rechten zu sehen. Danach ging’s ins Hospital. Oma redete gar nicht. Versuchte es zwar aber es war so undeutlich und leise. Ansonsten stöhnte sie nur und fuchtelte mit den Armen hin und her. Frank hielt sie dann fest. Wir vesuchten zu erfahren, was sie wolle. Dann merkten wir, daß sie aufs Klo mußte. Allerdings war’s schon zu spät, als die Schwester kam. Vorher hatte sie sich das Katheter (glaube ich) rausgerissen,

RECHTS und es blutete den Verband voll. Sie fuchtelte weiter und verschmierte das Blut auch am Kissen. Wir versuchten sie festzuhalten, damit sie es nicht wieder rausreißt. Oma nahm ständig Franks oder meine Hände, drückte sie, hielt sich am Gitter fest, versuchte sich am Nachttisch festzuhalten. D Während ich drinnen war, erzählte die Schwester Frank, daß es oft so ist, daß sich viele Sterbende vorm Tod nochmal so aufbäumen und wehren. Nachdem Oma durch die Spritze beruhigt worden war, gingen wir nach 1 1/2 Stunden des Besuchs. Diesmal winkte sie nicht mehr. Frank fragte mich am Abend beim Zähneputzen, ob Oma diese Nacht wohl stirbt. Er hat es im Gegensatz zu Papa einmal gesagt und Recht gehabt. Frank



LINKS weinte richtig doll und ich konnte und wollte irgendwie gar nicht. Papa fragte, ob ich am nächsten Morgen zu Hause bleiben wolle, aber auch das wollte ich nicht. Frank muß wohl gedacht haben, ich sei auch froh, daß Oma tot ist, aber wenn er wüßte, wie’s mir letzten Freitag ging, würde er das anders sehen. Was un mich wundert, ist daß Papa überhaupt nicht weint. Sogar bei Günter J. hat er geweint. Und was mich und Frank aufregt, ist daß Papa allen erzählt, „daß es mit Oma endlich vorbei ist“. Natürlich hat sie keine Schmerzen mehr. Aber Papa meinte, daß es besser gewesen wäre für sie, wenn sie letztes Jahr schon gestorben wäre. Aber Oma wollte nun mal leben. Sei es auch nur

RECHTS für uns. Gestern bei Christel hab es auch kurz Streit darum, wie sich Papa verhält. Frank versuchte Papa klar zu machen, daß Oma für ihn die letzten 30 Jahre war und nicht das letzte. Und Papa solle nicht definieren, was lebenswert sei. Oma wollte leben, obwohl die anderen sie schon längst aufgegeben hatten. Christel schlichtete etwas und versuchte Papa klar zu machen, daß wir alle drei nun mal sehr an Oma hingen und nun eine andere Einstellung als er haben. Was das Seltsame ist: Gestern morgen gab es ein furchtbares Gewitter. Es krachte fast direkt über unserem Haus. Über den Tag wurde es dann schöner und richtig warm. Und ich hatte mir morgens dasgleiche gedacht wie Frank. Er sagte: „Hast du schon mal gedacht, daß das Gewitter aus dem Himmel kommt,



LINKS wie in der Bibel?“ Und das hatte ich in der Tat. Entweder gab’s zwischen Oma und Mama oder ihrem Mann den ersten Streit oder sie wollte uns ein letztes Zeichen geben. Was Frank mir noch zu Omas letztem Kampf sagte war auch so rührend: „Oma wollte sich am Leben festhalten.“ Sie hat es nicht geschafft. F Und jetzt ist der 29. April, Klaus’ Geburtstag, 10 Tage nach meinem Geburtstag, 3 Monate minus 10 Tage vor Mamas Todestag, ihr Todestag.   ¶   07.05.98   ¶   Ich habe euch ja wirklich Ewigkeiten nicht mehr schrieben, aber ich hatte wirklich keine Zeit, absolut nicht. Oma wurde vorgestern beerdigt. Es war so traurig. Wir haben

RECHTS in der 1. Reihe gesessen, den Sarg direkt vor uns. Es ist so traurig, wenn man weiß, daß sie mit gefalteten Händen da drin liegt und nie mehr wieder kommt. Der Herr S., der Samstag Abend zuvor da gewesen war, erzählte von Oma, was nach Dietmar’s Meinung ziemlich unpersönlich war. Außerdem verwies er darauf, daß wir vor 9 Jahren schon mal sowas hatten mitmachen müssen und obwohl schon soviel Zeit vergangen ist, und soviel passiert ist, kommt es einem kurz vor. Dann laberte er dauernd vom Frieden Gottes, Segen und er solle uns trösten. Wie denn? Bis jetzt hat er es auch nicht gemacht. Dann fuhren wir zum Friedhof. Da wurde Oma von uns allen im Zug begleitet. Sie bekam die Stelle neben Mama, was sie wohl sehr gefreut hätte. Papa war zuerst nicht so begeistert, weil er jetzt



LINKS noch 10 Jahre leben muß. Frank trat als erster ans Grab, schmiß Erde hinein und Dietmar war an der Reihe. Er weinte auch fürchterlich. Er brachte heraus, daß Oma die herzlichste Frau war, die er je gekannt hat. Dann ging Papa hin und tröstete ihn. Dietmar nahm die Schaufel, warf die Erde auf den Sarg und steckte den Spaten mit aller Wucht zurück in den Eimer, so daß das Gitter ratterte. So wütend und traurig war er. Dann kam ich. Ich warf die Rose, die Frank mir gegeben hatte, weil ich meine in der Kapelle ver­gessen hatte, hinein. Ich war in dem Moment auch ziemlich fertig. Was die anderen taten weiß ich nicht so genau. Als wir gingen hat auch Frank bitterlich geweint. Auch I. hatte in der Kapelle bzw. auf dem Weg zurück geweint, aber N. hat man keine Trauer

RECHTS angesehen. Auf dem Rückweg ging ich mit Christel und Karin und Dietmar, die uns trösten wollten. Wir gingen zu dem Restaurant Unter den Ulmen und aßen Beerdigungskuchen und Brötchen. Ich saß mit Onkel Karl., T. Lieschen, N., I., Frank + Dietmar an einem Tisch. Es kam auch das Thema „Omas Haus“ auf und Frank ärgerte sich so, daß N. schon wieder an Omas „viel zu großen Fenstern“, die ihr noch nie gefielen, zu mäkeln hatte. Es waren Tante Herta, Waltraud, Dieter + Frau, Uschi, Herr + Frau Kosfeld, Raphaela, Klaus, Oma. L., Tante Ingrid, Manfred, Onkel Herbert, T. Hilde, Christel, Karin (Frau Köhler nur zum Friedhof) und die an unserem Tisch sitzenden. Um 1500 gingen wir noch mal zum Friedhof. Nun lag Oma also da, wo sie zuletzt im November gewesen war. Nur unterhalb der Erde.



LINKS Dietmar hatte zu mir und Frank noch im Restaurant gesagt: „Tja, jetzt haben wir keinen Schutzengel mehr.“ Frank meinte darauf: „Nein, jetzt haben wir zwei.“ Am Abend meinte Frank, daß Dietmar Recht habe und wir dann jetzt gegenseitig für uns da sein müssen. Bis auf O. Herbert + Kosfelds + die Avenwedder, gingen Karin + Christel, gingen kamen noch alle mit zu uns nach Hause Bis zuletzt blieben R.s mit Lieschen. Abends ging’s darum, was mit dem Haus passiert. Wir einigten uns, daß Bekannte, wahrscheinlich Karin, einziehen sollten. Gleich am nächsten Tag fuhren Papa + Christel und Frank + Dietmar zur Austernbrede. Ich konnte leider nicht mit und kam nach Drama mit dem Fahrrad dorthin. In letzter Zeit läuft alles schief: Oma stirbt,

RECHTS ich verliere meinen blauen Lamy (ich spiele mit dem Gedanken, daß C. ihn hat, und es nur nicht zugibt), ich find keinen Tanzpartner (wenn der Jens gleich auch nicht da ist, muß ich mich wohl abmelden), Omas 96er Testament wird nur gefunden, wo das Haus gedrittelt wird und ich komme abends nicht vor 1200 ins Bett und ich muß um 700 aufstehen. Am Wochenende werde ich wohl auch nicht ausschlafen können. Samstag will ich mit zur Austernbrede und die stehen alle schon um 8:30 auf und Sonntag müssen wir früh zu Julias Konfirmation. Wenn ich Pech habe, ist nächsten Dienstag-Vormittag Drama Probe, obwohl eigentlich frei wäre, wegen mdl. Abiprüfungen. Hoffentlich sind wenigstens die selbstgeschossenen Fotos von mir was geworden. Nen neuen Lamy muß ich mir auch kaufen.



LINKS Gestern Abend haben wir schon mal ein paar Sachen von Oma verteilt aufgeteilt.   ¶   15.05.98   ¶   Hallo Ihr! Ja, mich gibt’s auch noch. Frank ist eben gefahren, Dietmar gestern. Nun ist das Haus wieder leer. Naja, menschenleer. Ansonsten ziemlich voll, mit Omas Sachen. In meinem Zimmer ist ein Chaos, ganz ganz schlimm. Die letzte Woche war ja ziemlich stressig. Mittwoch haben wir angefangen Omas Haus auszuräumen und Mittwoch sind wir auch fertig geworden. Der Küchenschrank steht jetzt im Vorrats­keller, die grünen Möbel auf dem Boden. Karin hat sich das Haus schon angesehen, wollte aber 1 Woche Bedenkzeit. Papa meinte sie tendiert eher zu nein als zu ja. Schade! Ich muß

RECHTS gleich unbedingt das Zimmer aufräumen. Soviel Sachen: Handtasche, Photoapparat, Unmengen Karten + Photos, Schmuck, Halstücher, Kissenbezüge, Brillen, Hüte, Sattelbezug, Körbe, Mandoline, Wecker, Kladden, Pflanzen, Vasen, Spardosen, Hansaplast, ’ne Spritze, Handschuhe, Koffer, Bilderrahmen, Negative, Portemonnaies, Knirpse, Füller, Kulis, Tragetaschen, Weihnachtstischdecke, alte selbstgemachte Bilder, Kohlepapier, Geburtstagskarten an Oma, Kalender (von mir gemalte)... Wenn ich was vergessen haben sollte, verzeiht es mir, aber wenigstens habt ihr jetzt einen Eindruck vom Ausmaß des ganzen Krimskrams. Ein paar Klamotten habe ich sogar auch für mich entdeckt. Diestag war frei und da habe ich den ganzen Tag, wie auch Samstag mithelfen können. Wir haben es geschafft, den



LINKS ganzen Keller leer zu räumen. Frank und Dietmar hatten daran gar nicht geglaubt, als sie einen Tag zuvor angefangen hatten. Aber zu fünft schafft man mehr als zu zweit und außerdem hatten wir die Müllkippe. Sonntag war die Konfirmation gewesen. Sie war sehr schön. Die Konfirmation in der Kirche ging sage und schreibe 2 ganze Stunden lang. Es war komisch ohne Oma in der Kirche zu sein. Wir saßen allerdings links und nicht rechts mitte wie Weihnachten. Wir saßen dort, wo ich am 1. Schultag mit Schultüte und Tornister mit zusammen mit Oma und Papa gesessen habe. Dietmar und ich haben und während des Gottesdienstes schlappgelacht. Nicht allein, weil sich alle ständig bei irgendwem bedankten, es Mißverständnisse zwischen Posaunenchor

RECHTS und Orgelspieler (Herrn Rimpel gab, sondern weil es nicht üblich ist in der Kirche zu lachen und das macht es doppelt witzig. Danach, beim Chinesen, habe ich so zugeschlagen: 2 Frühlingsrollen (aber frag nicht nach Sonnenschein) und 1 Eis mit Erdbeeren. Das hätte für den Rest des Tages genügt, aber es gab noch Torte/Erdbeer, Venus und noch ’ne Sahnige mit Marzipan. Ich habe mich an Erdbeer gehalten, weil die nicht so sahnig und kalorienreich war und mir am besten schmeckte. Es war so heiß am Sonntag, daß wir schön im kühlen Schatten im Garten saßen. Später gingen wir noch zur Anne-Frank-Schule. Die ”Alten“ spielten Boccia, wir anderen saßen herum, spielten Volleyball oder testeten den äußerstn äußerst interessanten Spielplatz. Es war ein recht schöner Tag, aber ohne L.s hätte die Runde sehr



LINKS klein ausgesehen.   ¶   19.05.98   ¶   Na Ihr? Heute ist Dienstag und somit habe ich die Mathe- und Deutsch­arbeit hinter mir. Als ich vorhin in mein Zimmer kam, hab ich schon gleich einen Wutanfall gekriegt: Die Palme, die ich von Oma hab war weg, der Globus, die Kunstblumen, die Kerze und die Muscheln lagen auf der Treppe, der Gummibaum (oder was das auch immer ist, das ich von Oma bekam, als sie noch lebte) war ebenfalls weg. Papa meinte das Zimmer wäre viel zu voll, die Palme gehöre da nicht rein und hat die Sachen einfach rausgeräumt. Was hat er in meinem Zimmer rumzuräumen

RECHTS fragte ich und er meinte, das könne dieses Chaos könne er nicht leiden, worauf ich meinte, er müsse ja nicht reinkommen und er wetterte sofort los, das Haus gehöre ja wohl ihm, was natürlich auch nicht so ganz stimmt. Papa meinte dazu: „Ja wieviel denn. Das können wir ja mal ausrechnen.“ und legte sich hin. Ich holte alle Sachen bis auf die Palme, die jetzt im Garten steht, zurück. Der Gummibaum stand in Franks Zimmer. Als ich ihn holte und Papa wieder rumblöken wollte, sagte ich: „Den habe ich von Oma und will ihn in meinem Zimmer haben.“ Dann machte ich die Tür zu und es war Ruhe.



[ erlebt: 16-jährig / 1998 ]
[ Medium: Tagebuch ] [ Archivierung: Arbeitszimmer / Kastenliege / Pappkarton ]

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Diese Tagebucheinträge entstanden im Frühjahr 1998, beginnend an meinem 16. Geburtstag und schildern die letzten Tage von und mit meiner Oma, die zu der Zeit zum zweiten Mal an Krebs erkrankt war. Ich hatte ein ziemlich enges Verhältnis zur Oma mütterlicherseits, da ich nach dem Tod meiner Mutter vier Jahre bei ihr gelebt habe, damit jemand da war, um mich zu beaufsichtigen. Bei meinem Vater war ich nur an den Wochenenden und in den Ferien.
       Nach der Grundschulzeit zog ich wieder ganz zu meinem Vater, da man mir inzwischen zutraute, alleine zu Hause zurecht zu kommen. Mein Vater war ja berufstätig und nur mittags und abends da. Die Zeit bei meiner Oma habe ich fortan nicht allzu sehr vermisst, da ich zu Hause tun und lassen konnte, was ich wollte, was bei Oma nicht möglich war. Sie war meist sehr streng und hat mir vieles nicht gestattet. Für sie war mein Auszug wahrscheinlich eine viel schwierigere Umstellung, da sie plötzlich wieder alleine wohnen musste. Deswegen versuchte sie wohl, so viel Kontakt wie möglich aufrechtzuerhalten, was mir aber oft auf die Nerven ging. Ein Anruf von Oma bedeutete nämlich, mindestens eine Stunde ans Telefon im Flur gefesselt zu sein – an Schnurlos-Telefonie war damals ja noch nicht einmal zu denken.
       Als ich 15 war, erkrankte Oma nach sechs Jahren erneut an Krebs. Diesmal war es Darmkrebs, der zwar operiert, aber dennoch nicht ganz bekämpft war. Die Einträge geben den weiteren Verlauf des rapiden körperlichen Verfalls ja ziemlich genau wieder. Sie bekam starke Morphium-Medikamente, die ihr die Bewältigung ihres Alltags kaum noch möglich machten. Also kam sie zu meinem Vater und mir und wir pflegten sie nach bestem Wissen und Gewissen. Mein Bruder, den ich des öfteren erwähne, wohnte damals 500 km weit weg und kam erst ganz am Schluss hinzu. Er ist 16 Jahre älter als ich und war immer jemand, auf dessen Meinung ich sehr viel Wert gelegt habe, was auch dieser Text widerspiegelt.
       Adressiert waren meine Tagebücher immer an ein imaginäres Publikum, weil ich mir beim Schreiben blöd vorgekommen wäre, nur mit einem Buch zu kommunizieren. Umso passender, dass Teile daraus nun den Weg in die Öffentlichkeit finden.
       Diese Eintragungen zehn Jahre nach Omas Tod wieder zu lesen, war sehr traurig für mich. Durch die unmittelbare Aufzeichnung der Geschehnisse und Gefühlslagen kann ich die damalige Trauer heute noch sehr gut nachvollziehen. Und gleichzeitig finde ich die Bestätigung, dass Zeit alle Wunden heilt. In meiner Erinnerung ist die Dramatik und Traurigkeit längst verblasst. Nur dieser Text bezeugt, wie schlimm es für mich war. Auch gegenüber meinem Vater tut es mir inzwischen Leid, welch harte Worte ich stellenweise wählte. Aber das bringt die unmittelbare Gefühlsäußerung einer 16-Jährigen wohl so mit sich. Jedenfalls bin ich trotz der tieftraurigen Angelegenheit froh, die Geschehnisse so gut konserviert zu haben. Zwar sollte ich mich lieber an die schönen Zeiten mit Oma erinnern, anstatt an das traurige Ende, aber es zeigt mir sehr gut, wie sehr ich an Oma gehangen habe, auch wenn ich es in den Jahren zuvor wenig zu schätzen gewusst habe. So kann ich mir nun jederzeit ins Bewusstsein rufen, dass Oma ein sehr wichtiger Mensch für mich war und nicht nur eine Verwandte, die vor zehn Jahren gestorben ist.


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